Die Kirmes in Lieg im Jahre 1926 soll einen Ausschnitt einer beliebten Tradition mit der Vita des heiligen Goar zeigen
Heinz Kugel
Einer der großen Höhepunkte im Kirchenjahr war neben den bedeutendsten christlichen Festen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten die Kirchweihfeier, auch Kirmes, Kerb, Kirmse, Kirbe, Kerbe oder Kermes genannt. Ursprung davon war die erste heilige Messe oder die Weihe der Pfarrkirche an einem Schutzpatron. Es handelt sich hier um ein fröhliches ländliches Fest, an dem ausgelassen und zünftig gefeiert wurde.
Die volksgängige Bezeichnung „Kirmes“ hat zwei etymologische Wurzeln: Zum einen kann man sie als Kurzfassung oder Verballhornung von „Kirchweihfest“ vermuten oder es lässt sich ableiten von „kirmesz“, das auch als „Geschenk“ bezeichnet werden kann. Sicher aber dürfte sein, dass die Kirmes zunächst ein Gedenkfest an die Weihe der Kirche durch den Bischof und oft auch für den Festtag des Kirchenpatrons zu sehen ist. Zumeist aber blieb das Patronatsfest bis heute übrig. Mittlerweile gehen die Bestrebungen auch dahin, die oft unerwünschten Termine im Winter beispielsweise in die Sommermonate zu verlegen, um bei freundlicheren Temperaturen besser feiern zu können. So erging es dann auch einigen Martinskirmessen.
Kleinere Patrozinienfeiern wurden so in der Westeifel „Döppenkirmes“ genannt als deutlicher Hinweis darauf, dass der Schwerpunkt eindeutig geselliger familiärer Runde in Essen und Trinken lag. Die „Döppenkirmes“ erschien bereits im Jahre 1645 im luxemburgischen Dorf Springkingen. Auf der Mainzer Synode aus dem Jahre 813zählte man das Kirchweihfest unter die gebotenen Feiertage. Mit der damaligen Feiertagsordnung des Trierer Erzbischofs Balduin (1323) wurde die Kirmes zudem als örtlicher Festtag mit entsprechender Arbeitsruhe und zur Verpflichtung zum Gottesdienst reglementiert.
Erstmals begegnet uns die Kirmes im 9. Jahrhundert, von ihrer Bezeichnung auf die Kirchmesse zurückzuführen. Bereits der zeitgenössische Schriftsteller Agricola (1450 – 1528) verteidigte diese Feierlichkeiten in seinen „Sprüchen“. Dagegen registrierte Jacob Wimpfeling (1450 – 1528) naserümpfend und leicht versnobt, dass „der Dom zu Straßburg in ein Saufhaus verwandelt wurde“.
Doch jetzt zurück zu der Kirmes im Hunsrückdorf Lieg, dessen Schutzpatron der äußerst liebenswerte Missionar St. Goar ist. Bereits vor 500 soll er seine Heimat Aquitanien in Südfrankreich verlassen haben, um schließlich als Priester an den Mittelrhein zu ziehen, wo heute noch das Städtchen St. Goar an sein Wirken erinnert.
Er gründete in der Spätantike in den Jahren des Zusammenbruchs des gewaltigen römischen Imperiums zwischen Boppard und Oberwesel seine Eremitenklause, um vorbeifahrfahrenden Schiffern das Wort Gottes zu verkünden, sie auch zu beköstigen und zu helfen. Sie war schon sprichwörtlich: seine überaus große Gastfreundlichkeit. Von seinem stets frohen und gütigen Lächeln wird noch bis heute gesprochen. Erhalten hat sich zudem eine wunderschöne Geschichte des Heiligen, die ganz sein bescheidenes Wesen zeigt. Eines Tages musste Goar zum Bischof nach Trier, es hatte Beschwerden über ihn ob seiner menschenfreundlichen Art gegeben. Der hohe Würdenträger in Augusta Treverorum, möglicherweise handelte es sich um Maximianus, war bass erstaunt und sofort überzeugt von der Heiligkeit des jungen Missionars vom Rhein. Vielleicht noch ein kurzer historischer Hinweis: Die Jahre nach 475/76 waren bestimmt durch gewaltige kriegerische Ereignisse im Zusammenhang mit dem Vordringen der Kölner Rheinfranken. Vor allem auch davon betroffen war das Moselland. Es könnte auch Arbogast gewesen sein, der als Bischof von Chartres in Frankreich amtierte, der in den achtziger Jahren des 5. Jahrhunderts auch in Trier war. Dieses aber lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei durch Quellen belegen.
Aber jetzt zurück zum Lieger Schutzpatron Goar, der demnach auch im Hunsrück missionarisch tätig war und so die Basis für die Christianisierung in der hiesigen Region legte. Interessant wäre aber auch, ohne zu viel vom eigentlichen Thema des Kirmesbrauchtums abzuschweifen, ob Goar mit dem heiligen Kastor von Karden, der ebenfalls aus dem südfranzösischen Aquitanien stammte, gemeinsam unterwegs war, um den Menschen den christlichen Glauben näher zu bringen. Wurden beide Seelsorger möglicherweise vom gleichen Bischof zur gleichen Zeit an Rhein und Mosel entsandt? Der Überlieferung nach lebten die beiden Priester im 5. Jahrhundert, exaktere Daten liegen leider nicht vor.
Das Brauchtum zu der Kirmes in Lieg und auch in Beltheim begann am Todestag des Heiligen, also am 6. Juli 508. Das Datum selbst dürfte glaubwürdig sein. Eine Besonderheit bis heute bei der Festlegung war das Datum 6. Juli. Fiel dieses genau auf einen Sonntag, wurde dann das Kirchweihfest begangen. War dieser Zeitpunkt schließlich einen Tag früher, an einem vorausgegangenen Samstag, gab es die Kirmes erst eine Woche später
Die Kirmes selbst bedeutete vor allem viel Stress für die Hausfrauen, das war von 90 Jahren nicht anders als heute. Lange vor den elektrischen Herden mussten die Backzeiten im alten Backhaus, heute steht dort das Feuerwehrgerätehaus, ausgelost werden, um so möglichst gerechte Zeiten zu erreichen. Es wurde dabei auch nachts durchgearbeitet und gewerkelt. Stolz konnte dann den zumeist zahlreichen Gästen die herrlich duftenden Backergebnisse wie Streusel- und Obstkuchen präsentiert werden. Die Hausfrau gab sich natürlich besonders große Mühe bei den Vorbereitungen und auch beim eigentlichen Backen, denn sie hatte einen Ruf zu verlieren. Die Kinder fanden das Ganze äußerst spannend und sie harrten in fiebriger Erwartung auf den großen Festtag, fast die einzige Abwechslung in einem oft langweiligen und nur von harter Arbeit bestimmten Alltag.
Wenige Tage vor der Kirmes stieg die Spannung ins Unermessliche und vornehmlich die Kinder und Jugendlichen waren nicht mehr zu halten. Kopf und Ohren wurden in voller Konzentration auf die Straße gelegt, was damals wegen dem geringen Fahrzeugverkehr noch störungsfrei möglich war, um endlich das Ächzen und Knarren der schweren Kirmeswagen zu hören. Stolz war man dann, wenn man beim Aufbau der Schieß- und Warenstände mithelfen konnte. Der Lieger Volksmund nannte sie „Mäatsche“, abgeleitet von Markt.
Endlich aber war es soweit: Eine bunte, schillernde Welt voller Papierblumen, Süßigkeiten, Schießbuden, Ständen und Karussell mit lauter Musik und Gassenhauern brach ein das graue Allerlei der gewohnten Realität und verzauberte für wenige Tage Alt und Jung.
Freitags bereits liefen die Kinder zu der Bushaltestelle, wenn der Omnibus vom Kardener Bahnhof an der Mosel stinkend und lärmend den Hunsrück hinauf keuche, um den erwartungsvollen „Besuch“ aus dem „Niederland“ (Köln-Düsseldorfer Raum) zu bringen, der freudig von den wartenden Einheimischen begrüßt wurde. Es gab auch viel zu erzählen, denn man hatte sich oft ein ganzes Jahr nicht gesehen, wenn nicht gerade eine Hochzeit oder eine Beerdigung dazwischen angestanden hatte. Bei dem sogenannten „Besuch“ handelte es sich vornehmlich um nähere und weitere Familienangehörige und Verwandte, die vor Generationen schon in die Industrieregion gezogen waren, um hier ihren Lebensunterhalt besser bestreiten zu können. Der Hunsrück war karg und bot höchstens einem Bauern nebst seiner Familie und auch den alten Eltern einen einigermaßen Auskommen. Es reichte jedoch nicht für die zumeist große Familie mit mehreren Kindern, die sich bereits in jungen Jahren einen auswärtigen Arbeitsplatz suchen mussten. Was war dafür besser geeignet als die pulsierende Industrielandschaft im „Niederland“, also an Rhein und Ruhr?
Die Verwandten aus der näheren Umgebung, manchmal bis zu 30 Kilometern Entfernung, kamen natürlich alle per Pedes. Vor den einzelnen Mahlzeiten mussten Unmengen von Kartoffeln geschält, Salate und Gemüse und selbstverständlich der Festbraten vorbereitet werden, bis endlich der lang ersehnte Festschmaus auf dem Tisch stand. Dann ging es vergnügt zu, es wurde gegessen und getrunken, alte Geschichten aufgewärmt und zum Besten gegeben. Begierig lauschten die Kinder den Gesprächen der Erwachsenen, die so manche Story noch kräftig mit erfundenen Höhepunkten würzten, bis sie schließlich selbst daran glaubten. Ein Original Lieger Gericht war Kabbes, Erwes und gegarter Schinken, nachmittags die tollsten Kreationen an Kuchen und abends einen köstlichen Braten. Der Musikant spielte zum Tanze auf und kassierte abends pro Tanz einen Groschen. Zwischendurch ging man an den Schießstand, um für die Angebetete Papierrosen zu schießen. Die letzten drei Tänze aber gehörten stets demjenigen, der auch später das Mädchen nach Hause begleiten durfte. Aber: Was wäre eine Tanzmusik ohne eine zünftige Schlägerei zwischen den jungen Burschen? Zumeist wurde dieses Kräftemessen jedoch nicht mit der Brutalität wie heutige Gewaltdelikte praktiziert. Anschließend vertrug man sich und die Welt war wieder in Ordnung.
Ein besonderer Höhepunkt der dörflichen Kirmes war und ist der sonntägliche Gottesdienstbesuch, wenn es morgens zum feierlichen Hochamt und anschließend unter den Klängen des Musikvereins und mit der Eskorte der freiwilligen Feuerwehr zur Gefallenenehrung auf den Friedhof ging. Das ganze Dorf war dann auf den Beinen, um dem Sonntag einen feierlich-angemessenen Rahmen zu geben.
Nach diesem feierlichen Akt traf man sich zum Frühschoppen, derweil die Kleinsten staunend vor der farbenprächtigen Kulisse an Schießbunden und Karussells standen. Gleichzeitig ging verstohlen ihr Griff in die Hosentaschen, um die magere Anzahl an Groschen zu prüfen, um dann doch ab und an eine Fahrt auf dem bunten Karussell mit seinen herrlichen Fantasiegestalten zu wagen. Kinderträume gingen tatsächlich in Erfüllung. Eine kleine Episode zwischen zwei Schaustellern, die nebeneinander ihre Stände postiert hatten, ist noch heute in Lieg deutlich in Erinnerung. Demnach sagte der eine: „Wenn de mech schmeißt, kriechst de mei Heisje!“ Übersetzt bedeutet das: Wenn Du meine Bude umwirfst, bekommst du das ganze Häuschen! Darauf der andere: „Ich scheiß off die Heisje, aane gode Reen, dann gieht et enn de Millbach!“ Sinngemäß bedeutet das: Ich sch… auf dein Häuschen, bei einem starken Regen wird es in den Mühlbach gespült! Die Nachkommen des Schaustellers leben noch heute in Lieg.
Es darf noch darauf hingewiesen werden, dass die Schausteller zwar bei den Kindern sehr beliebt waren, sich jedoch auf der allgemeinen Ansehensskala ganz unten bewegten. Trotzdem brachten sie viel Freude und Abwechslung in die Dörfer. Viele dieser „Kleinunternehmer“ kamen aus Gondershausen im Hunsrück und auch aus Lieg von der „Holl“. Gemeinhin waren es arme Menschen, die wenig Felder, Äcker und Wiesen besaßen, um Landwirtschaft zu betreiben. Sie mussten sich mit ihren großen Familien so über die Runden bringen, um nicht zu verhungern.
Als Resümee gilt es festzuhalten: Eine kleine Welt mit großer Tradition, die aber in jedem Jahr mit großer Begeisterung gepflegt und gehegt wurde. Nicht immer ging es bei diesen Familientreffs störungsfrei ab, denn die Hunsrückhäuser waren nicht sehr groß. Man musste auf engstem Raum über mehrere Tage miteinander klarkommen. Alte, unter der Decke schwelende Konflikte traten dann immer mal wieder auf, doch am Ende nach der Kirmes schied man wieder im besten Einvernehmen und mit dem Versprechen, sich des Öfteren sehen zu wollen, was aber meistens ein frommer Wunsch blieb. Die damaligen Verkehrsverhältnisse verhinderten leider Spontanbesuche.
Auch wenn aktuell diese schöne Tradition abgeebbt scheint, bleibt es doch ein liebenswertes Brauchtum, das sich in seinen Grundzügen bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Prinzip Hoffnung auch für eine menschenfreundliche Zukunft mit alltäglicher Arbeit und Mühen aber auch mit den feierlichen Unterbrechungen an Kirmes und an anderen dörflichen Festhöhepunkten während des Jahres.
Quellen:
Heimatjahrbuch Cochem-Zell 1995; Brauchtumslandschaft Eifel; Geschichte des Bistums Trier: Im Umbruch der Kulturen; eigenes Erleben